Australopithecus sediba: Der etwas modernere Vormensch - DER SPIEGEL

2022-08-21 05:11:33 By : Mr. JACKY NIU

Schädel eines jugendlichen Australopithecus sediba: "Dad, ich habe ein Fossil gefunden!", rief der neunjährige Matthew im August 2008 in einer Höhle bei Malapa, einige Kilometer nördlich von Johannesburg. Der Junge konnte nicht ahnen, welche Bedeutung sein Fund für das Puzzle unserer Existenz einmal haben könnte. Zunächst glaubte sein Vater, der Paläoanthropologe Lee Berger von der Witwatersrand University in Johannesburg, sein Jüngster hätte den Knochen einer Antilope entdeckt. Doch als Berger genauer hinsah, erkannte er sofort, dass es sich um ein versteinertes menschliches Schlüsselbein handelte - einer zuvor unbekannten Art der Gattung Australopithecus. Seither haben die Forscher mehr als 220 Australopithecus-sediba-Knochen in der Höhle gefunden.

Rekonstruktion des Schädels von Australopithecus sediba: Inzwischen haben die Wissenschaftler die 1,98 Millionen Jahre alten Skelette im Detail untersucht. Zahlreiche Ergebnisse sorgten bei den Paläoanthropologen für großes Aufsehen - fünf Veröffentlichungen im Wissenschaftsmagazin "Science" sind jetzt das Resultat ihrer Studien der letzten drei Jahre.

3-D-Röntgenanalyse des Schädels: Wie sich herausstellte, vereint Australopithecus sediba verschiedene Merkmale, die bei einem frühen Vorfahren des Menschen so noch nicht gesehen wurden. Eine der größten Überraschungen war das Gehirn: Obwohl es bereits Merkmale von modernen Menschen besitzt, ist es sehr klein.

Lee Berger an der Malapa-Höhle, dem Fundort der Fossilien: "Die zahlreichen fortgeschrittenen Merkmale des Gehirns und des Körpers in Verbindung mit seinem hohen Alter machen ihn zum wahrscheinlich besten Kandidaten für den Vorfahren unserer Gattung Homo - besser noch als frühere Entdeckungen beispielsweise des Homo habilis."

"Karabo" tauften die Forscher das Skelett des 10- bis 13-jährigen Sediba-Knaben. Der Name stammt aus der Bantusprache Setswana und heißt so viel wie "Antwort". Ein 17-jähriger Schüler aus Johannesburg, der eine Ausschreibung der Forscher gewonnen hatte, ist der Namensgeber für das Skelett, das die wissenschaftliche Bezeichnung "MH 1" trägt. Für das zweite sehr gut erhaltene Sediba-Skelett "MH 2", das von einer Frau stammt, haben die Forscher bisher keinen Spitznamen.

Rekonstruktion des Gehirns von Australopithecus sediba: Als Endocast bezeichnet man die räumliche Nachbildung des Gehirns. Die Innenseite des Schädels dient als Form für den virtuellen Schädelausguss, da sich die Gehirnwindungen gewissermaßen dort einprägen.

Die Rekonstruktion des Gehirns ergab: Die Form der Windungen und Furchen weist in eingen Bereichen, vor allem im Frontallappen sowie dem Riechlappen, bereits Züge eines modernen Hirns auf.

Blick in das Schädelinnere mit Hilfe verschiedener Tomografen (links eine klassische Computertomografie, rechts eine sogenannte Synchrotron-Mikrotomografie): Zu erkennen ist auch ein Zahn (rechts unten) des Fossils. Um die Vormenschen zu durchleuchten, nutzten die Paläoanthropologen moderne Hightech-Geräte. Enstanden sind Aufnahmen mit der bisher besten Auflösung, die es von einem Schädel eines Vormenschen gibt. Selbst Details, zehnmal feiner als die Dicke eines Haars, löst das Röntgenmikroskop auf.

Aus den Daten schließen die Forscher, dass die Reorganisation des Vorderhirns erfolgt sein muss, bevor das Gehirn im Laufe der Evolution an Größe zunahm.

Virtuelles Endocast des MH-1-Hirns: Das Gehirnvolumen des Vormenschen-Knaben war überraschend klein. 420 Kubikzentimeter umfasste dessen Hirnmasse, das ist nicht größer als eine Grapefruit - und durchschnittlich nur 40 Kubikzentimeter mehr als das Hirnvolumen von Schimpansen.

Die Hand von Australopithecus sediba: Handknochen, die man einem einzigen Individuum zuordnen - und taxonomisch eindeutig einordnen - kann, finden Paläoanthropologen nur selten. Diese Hand von Australopithecus sediba ist die älteste und vollständigste Hand eines Homininen nach dem Auftauchen von Steinwerkzeugen. Die Hand gehörte einer etwa 30 Jahre alten Frau, deren Skelett MH 2 genannt wird.

Größenvergleich mit der menschlichen Hand: Erstaunlicherweise zeigt die Hand des Sediba mehr moderne Merkmale als die Handfragmente eines früheren Fundes: Homo habilis, der "fähige Mensch", galt bisher als Ursprung des werkzeugherstellenden Menschen - und damit als erster Vertreter der Gattung Homo. Der Sediba-Fund rüttelt an dieser Theorie. "Australopithecus sediba sollte umso mehr zur Werkzeugherstellung fähig gewesen sein", sagt Peter Schmid von der Universität Zürich, der Mitautor der "Science"-Publikationen ist.

Merkmale der rechten Hand von Australopithecus sediba (linkes Bild: Blick auf die Innenseite der Hand, rechtes Bild: Blick auf den Handrücken): Die Wissenschaftler stellten fest, dass Australopithecus sediba seine Hände noch zur Fortbewegung in Bäumen nutzte, gleichzeitig aber bereits über die Fähigkeit des menschlichen Präzisionsgriffs verfügte, eine Voraussetzung zur Werkzeugherstellung. Behauene Steine aus jener Epoche vor bis zu 2,5 Millionen Jahren sind längst bekannt. Doch wusste bisher niemand sicher zu sagen, wer sie hergestellt hat.

Vergleich der relativen Daumenläge von Australopithecus sediba mit anderen Fossilien: Im Verhältnis zu den anderen Fingern gesehen ist der Daumen von Australopithecus sediba relativ lang, sogar länger als der Daumen eines modernen Menschen. Anhand dieser und weiterer Merkmale leiten die Forscher ab, dass die Sediba-Hand moderner als die des Homo habilis ist - obwohl Homo habilis 200.000 bis 300.000 Jahre jünger ist. Die Hand gilt als Markenzeichen der Menschheit. Erst im Laufe der menschlichen Evolution wurde sie nicht mehr wie bei Affen zum Fortbewegen, sondern für Manipulationen gebraucht. Die Forscher glauben, dass sich aus der Sediba-Hand später sogar die Hand anderer Homininen der Gattung Homo entwickelt haben könnte.

Becken von Australopithecus sediba: Links ist das rekonstruierte Becken des etwa 10 bis 13-jährigen Knaben "MH 1" zu sehen, rechts das der Vormenschen-Frau "MH 2". Das Becken ist nach Ansicht der Paläoanthropologen eine Mischung aus ursprünglichen, australopithecus-ähnlichen, und späteren, homo-ähnlichen Merkmalen.

Vergleich des Beckens von Australopithecus sediba mit dem Beckenfossil der weltberühmten "Lucy" (Australopithecus afarensis): Die Forscher waren verwirrt, dass Sedibas Becken vergleichsweise modern ist, obwohl Sedibas Gehirn so klein ist. Bisher glaubte man, dass erst die Vergrößerung des Hirns auch zu den Anpassungen des Beckens führte, um die Geburt von Babys mit größerem Gehirn zu ermöglichen.

Virtuelle Rekonstruktion des rechten Fersenbein der Vormenschen-Frau "MH 2": Seit langem wissen die Paläoanthropologen, dass ein grundlegender Umbau der Fußgelenke notwendig war, damit der Vorfahr des Menschen seine angestammte Heimat in den Bäumen verlassen konnte. Doch im Gegensatz zum Becken, zur Hand oder zum Schädel ist der Fuß von Australopithecus sediba sehr affenartig. Auch im Vergleich mit älteren Vorfahren weist der Fuß erstaunlich wenig moderne Merkmale auf.

Das rechte Sprunggelenk: Bernhard Zipfel von der University of Witwatersrand und seine Kollegen sind der Ansicht, dass das Gelenk eines der vollständigsten eines Homininen ist, das bisher gefunden wurde. Die Knochen sind sogar in ihrer ursprünglichen Lage zueinander versteinert. Um dieses Arrangement nicht zu zerstören, verzichteten die Forscher darauf, jedes einzelne Knöchelchen zu präparieren. Stattdessen schoben sie den ganzen Gesteinsblock in den Computertomografen. Der offenbarte ihnen einen Blick auf das gesamte Gelenk. Verschiedene Merkmale der Fußknochen lassen auf einen aufrechten, zweibeinigen Gang schließen, andere deuten darauf hin, dass Australopithecus sediba ein guter Kletterer war.

Sediment-Skizze der Malapa-Höhle: Die Fossilien lagen inmitten der Überreste von Säbelzahnkatzen, Antilopen, Mäusen und Ratten in einem ausgetrockneten unterirdischen Tümpel.

Geologische Karte der Fundstelle: Sein Forscherglück, vermutet Berger, verdankt er einem Sturzregen vor zwei Millionen Jahren. Die Höhle von Malapa muss seinerzeit ein tiefes Loch gewesen sein, an dessen Grund das Kostbarste lockte, was das zerklüftete Land zu bieten hatte: Wasser. Den beiden Vormenschen wurde das zum Verhängnis: Sie stürzten in den Tod. Wenig später muss dann ein Regenguss die Kadaver unter Schlamm begraben haben. Eingefroren für Jahrmillionen wurde so ein Schnappschuss des Menschwerdungsdramas.

Der Schädel während des Röntgenscans am Synchrotron in Grenoble: Machen all die Ergebnisse den Vormenschen aus Südafrika zum Ahnen aller heute lebenden Menschen? "Es kann gut sein, dass alles hier begonnen hat", sagt Berger. In der streitbaren Zunft der Paläoanthropologen ist gewiss, dass er sich damit auch Feinde machen wird.

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