Kinderessen: Wie aus dem Fisch ein Fischstäbchen wurde - WELT

2022-05-29 07:56:40 By : Ms. vicky zhou

W ill man Touristen in diese entlegene Region Alaskas locken, muss man Dutch Harbor zu einem Zeitpunkt wie diesem fotografieren. Der 27. Juli 2008 ist ein klarer, blauer Wintertag mitten im Hochsommer. Zwei Grad Celsius sind ein neuer Kälterekord für den Monat Juli. Der Himmel ist taghell. Die Sonne geht zwar für vier Stunden unter, aber sie bleibt so knapp unter dem Horizont, dass die Beringsee nie im Dunkel versinkt.

Draußen auf dem Meer schwimmt eine Fischfangfabrik. Ein mehrere Hundert Meter langes Schleppnetz wird krächzend eingeholt – Mäuler klappen hektisch auf und zu, Flossen zucken, dann ergießt sich der glitschige Fang durch die Luken in den Bauch des Schiffes. Nach und nach hört das Zucken und Zappeln auf, die Mäuler erstarren weit geöffnet.

Dann beginnt das Sortieren: Alaska-Seelachs in die eine Kiste, alles andere als Beifang in die andere. Noch vor zehn Jahren wurden Alaska-Seelachse oft wieder über Bord geworfen. Doch mittlerweile sind sie begehrt: Sie sind Rohware für viele Tiefkühlkostgerichte – vor allem für Fischstäbchen.

Durchschnittlich 23 Stück pro Jahr verspeist jeder Deutsche, Fischstäbchen dürfen auf keiner Speisekarte unter der Rubrik „Kinderteller“ fehlen. Vor 50 Jahren hatte Iglo die Idee, Fisch in Streifen zu schneiden, mit einer Panade zu versehen, zu frittieren und tiefgefroren zu verkaufen. Es war der Beginn eines unglaublichen Siegeszuges. Vor allem Kinder – sonst eher selten Freunde von Fischgerichten – lieben die Stäbchen. Vielleicht, weil sie knusprig schmecken, nicht nach Fisch aussehen und keine Gräten haben. Erwachsene schätzen die niedrigen Preise und die schnelle, leichte Zubereitung. 16,4 Kilogramm Fisch, davon 690 Gramm in Form von Fischstäbchen, aß jeder Deutsche im Jahr 2007, das waren 2,6 Kilo mehr als drei Jahre zuvor.

Als Iglo mit der Fischstäbchenproduktion begann, damals hieß die Firma noch „Solo Feinfrost“, steckte Hering unter der Panade, dann kam der Kabeljau. Erst als immer weniger Kabeljau in die Netze ging, wurde der Theragra chalcogramma, auf Deutsch Alaska-Pollack, zum Seelachs geadelt. Dabei ist er mit dem Lachs nicht einmal verwandt. Doch das Ende der Alaska-Seelachs-Ära ist absehbar. Die Bestände sind laut Umweltorganisation Greenpeace überfischt, und die Suche nach dem nächsten Fischstäbchenfisch hat schon begonnen. Der Pangasius, ein Zuchtfisch aus Vietnam, könnte das Rennen machen.

In Dutch Harbor interessiert sich noch kaum jemand für den Exoten. Der heutige Fang lässt keine Sorgen über die Vorräte der Beringsee aufkommen. Einige der gefangenen Alaska-Seelachse sind rund 80 Zentimeter lang. Den Arbeitern an Bord entlocken sie nicht einmal ein müdes Lächeln. Hier geht es nicht um einzelne Prachtexemplare, hier geht es darum, mit Aluminium umrahmte Kartons von 48,2 mal 25,4 mal 6,3 Zentimetern zu füllen – mit fertigen Filets. Pro Alaska-Seelachs kommen zwei aus der Filetiermaschine, grätenfrei. Sobald ein Karton 7,484 Kilogramm wiegt, gilt er als fertig gepackt. Ein Mann wuchtet die Kartons in einen Hochleistungsfroster. Nach wenigen Minuten ist der Inhalt schockgefroren, und die Kartons werden ins Tiefkühllager gebracht. Drei Stunden sind seit dem Heraufziehen des Netzes vergangen. Die Reise der Fischstäbchen beginnt.

Genau vier Monate später, am 27. November 2008, fährt ein Containerschiff in Bremerhaven ein. An Bord: die gefrorene Rohware aus der Beringsee. Vom Hafen zum Tiefkühllager von Frozen Fish International, der nach eigenen Angaben größten Tiefkühlfischfabrik Europas, sind es nur wenige Kilometer. Sieben Millionen Fischstäbchen produziert das Unternehmen pro Tag. Aneinandergereiht ergäbe dies eine Strecke von 700 Kilometern. Die neue Lieferung aus Alaska wird nicht gebraucht – zumindest nicht jetzt. Fast drei Monate vergehen, bis die Blöcke aus dem Lager in die Fabrikhalle gebracht werden. Am 17. Februar 2009 ist es so weit. 20 Leute arbeiten in der Frühschicht daran, die tiefgefrorenen Fischblöcke in goldfarbene Stäbchen zu verwandeln.

Der Besucher wird mit „Mahlzeit“ angeschrien, direkt ins mit Plastik verstopfte Ohr. In der Halle ist es warm und laut, Ohrstöpsel sind Pflicht. Die Haare der Arbeiter sind unter dünnen weißen Mützen versteckt, bei bärtigen Männern auch die am Kinn. 100 Meter ist die sogenannte Linie 2 lang, an deren Ende alle sieben Minuten eine mit 1800 Käpt'n Iglo-Schachteln beladene Palette von einem Gabelstapler abgeholt wird. Drei Linien gibt es, sie laufen 24 Stunden am Tag, sechs Tage die Woche.

Am Anfang des Laufbandes steht ein Mann und reißt die Pappe von den gefrorenen Fischblöcken. Unter der Eisschicht schimmern die Leiber durch. Eine senkrecht zum Band installierte Stichsäge trennt den Block in zwei Halbblöcke, die immer weiter zersägt werden – bis schließlich 378 Stäbchen entstanden sind. Jedes von ihnen neun Zentimeter lang, 2,6 Zentimeter breit und 1,1 Zentimeter hoch. Das sind die vorgeschriebenen Maße.

Die glitschigen Stäbchen fahren durch eine weiße Soße aus Wasser und Stärke, dann stürzen sie in eine Maschine und kommen paniert wieder heraus. Anschließend plumpsen sie in eine gigantische Friteuse. Aus dem offenen Sichtfenster dringt Brutzelgeruch, auf dem Band hinter der Friteuse liegen knusprige, goldfarbene Fischstäbchen. Doch wer jetzt hineinbeißt, gefährdet seine Zähne: Innen sind sie immer noch gefroren.

Auf die Friteuse folgt ein Gefriertunnel. Hinter ihm stehen drei Frauen am Band und schubsen die Stäbchen mit immer gleicher Handbewegung in schmale, rüttelnde Reihen. Unförmige Stäbchen werden in Plastikkisten geworfen. Brunhilde Armbrust macht das seit 19 Jahren. Wann sie zum ersten Mal ein Fischstäbchen gegessen hat, weiß die 58-Jährige nicht mehr. „Aber ich erinnere mich daran, dass meine Mutter welche in der Pfanne gebacken hat.“ Obwohl sie jeden Tag acht Stunden lang gefrorene Stäbchen sortiert, isst sie auch zu Hause gerne welche. „Wenn die Enkel zu Besuch sind.“

Wenige Meter weiter steht ein männlicher Kollege, vor sich eine Handvoll perfekt geformter Fischstäbchen, und begutachtet die vorbeifahrenden Reihen. Jedes knubbelige Stäbchen ersetzt er blitzschnell durch ein formschönes. Je zehn Fischstäbchen werden in jeweils einen Pappkarton mit dem Konterfei von Käpt'n Iglo geschoben, dann wird die Packung automatisch verklebt und gewogen. Entspricht das Gewicht nicht der Norm, wird der Karton maschinell vom Band gestoßen und landet in einem Plastikcontainer – oder auf dem Boden. Ein Arbeiter reißt die Packung auf und schüttelt die Fischstäbchen heraus. Diese müssen alle Stationen nach dem Gefriertunnel erneut durchlaufen.

Sobald zwölf Kartons die letzte Station, den Röntgenscanner, der die Fischstäbchen auf Metallteile oder andere Fremdkörper durchleuchtet, passiert haben, werden sie zu einem Paket zusammengeschnürt. Je 150 Pakete werden mit Folie auf einer Palette fixiert. Ein Gabelstapler fährt sie in das 14 Stockwerke hohe und minus 28 Grad kalte Tiefkühllager.

Zwei Tage später werden sie abgeholt. Ein Lastwagen bringt sie ins 300 Kilometer entfernte Zentrallager in Reken in Nordrhein-Westfalen. Dann vergehen Wochen. Dann treten die Fischstäbchen ihre Reise in einen Berliner Supermarkt an. Am 6. April ist es soweit: 253 Tage nach dem Fang liegt der Fisch aus der Beringsee auf dem Teller. In Stäbchenform und versteckt in goldfarbener Panade.

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