Revox A77: Meine Nostalgie-Maschine - digitec

2022-05-22 01:13:23 By : Ms. summer xia

Spulentonbänder sind für Leute, denen Musikkassetten zu modern und Schallplatten zu Mainstream sind. Und für Leute wie mich, die damit eine Kindheitserinnerung aufleben lassen wollen. Pflegeleicht ist so ein Gerät nicht. Aber es macht trotz aller Macken und Mühen Freude.

Ich habe das Tonbandgerät Revox A77 Mk IV meines verstorbenen Vaters revidieren lassen. Es stammt aus den Siebzigerjahren, als Musikkassetten noch nicht geläufig waren. Eine Bandmaschine, fast ein halbes Jahrhundert alt, hergestellt nicht in China und auch nicht in Japan, sondern in der Schweiz in Deutschland. Von einer Schweizer Firma.

Die Revision kostete einen vierstelligen Betrag, denn das ist Handarbeit mit Schweizer Lohnniveau. Wegen tatsächlicher und vermeintlicher Mängel fuhr ich insgesamt drei Mal zum Spezialisten. Jedes Mal mit dem 15 Kilogramm schweren Teil im Gepäck. Im Auto auf dem Rücksitz angeschnallt.

Noch viel schwerer war etwas anderes. Ich hatte keinen geeigneten Ort, um das Tonbandgerät aufzustellen. Also bestellte ich mir ein 80 Kilogramm schweres Sideboard. Weil ich für eine Lieferung in die Wohnung mehrere Monate hätte warten müssen, liess ich es mir vor den Haupteingang kippen. Und da das Ding an einem Stück kam, musste ich erst ein paar Kumpels zum Essen einladen und ihre Zügelhilfe beanspruchen.

Ein ziemlicher Aufwand also – warum eigentlich?

Ich erinnere mich an etwas Schönes aus meiner Kindheit und möchte diese Erinnerung gern wieder zum Leben erwecken. Dass ich Musik heute viel einfacher, praktischer und in höherer Qualität hören kann, spielt keine Rolle. Ebenso wenig wie die Kosten. Die Kindheitserinnerung ist unbezahlbar.

Zur Erinnerung gehört zuerst einmal die Musik selbst. Die Tonbänder enthalten Musik, die mich für immer geprägt hat. Dazu gehört Abbey Road von den Beatles, Before the Flood von Bob Dylan oder Bridge Over Troubled Water von Simon & Garfunkel. Diese Alben habe ich später als CDs gekauft.

Doch es ist mehr als das. Mit dem Tonbandgerät kann ich der Musik nicht nur zuhören, sondern ihr auch zuschauen. Die Spulen bewegen sich und ihre Geschwindigkeit ändert sich mit der Zeit. Anfangs dreht die rechte Spule viel schneller als die linke, weil ihr Umfang kleiner ist. Das gleicht sich immer mehr an, bis zum magischen Moment, wo beide im Gleichschritt tanzen. Wie bei einem Walzer. Dann wendet sich das Blatt, die rechte Spule wird fett und behäbig, die linke legt an Tempo zu. Diesem langsamen Wandel zuzuschauen, hat etwas sehr Meditatives.

Ein Plattenspieler bietet ein sinnliches Erlebnis: Beim Auflegen des Tonarms hörst du meist ein leises Knistern, bevor die Musik ertönt. Dieses Knistern löst höchste Vorfreude aus. Ganz ähnlich verhält es sich auch bei einer Bandmaschine. Beim Einschalten der Revox A77 steigt ein hoher Ton auf und wieder ab – ähnlich wie eine sehr leise Sirene. Gleichzeitig springen die beiden Lautstärkepegel kurz hoch, beleuchtet von einem Lämpchen. Auf einer gewissen Höhe pendelt sich der Ton ein und summte dann ganz leise vor sich hin. Damit ist die Maschine bereit.

Drücke ich auf «Play» oder später auf «Stop», hat das ein resolutes «Zack» zur Folge – ähnlich wie bei einer Schreibmaschine, wenn der Buchstabe auf das Farbband schlägt. Verursacht wird das durch die Andruckrolle, die nach oben springt. Beim Vorwärts- oder Rückwärtsspulen ist ein Windgeräusch wie bei einem Ventilator zu hören.

Ich will mir meine Kindheitserinnerung zurückholen. Doch nach der Revision wird klar, dass das nicht so einfach ist. Die alten Bänder sind hinüber. Über die Jahrzehnte zersetzen sie sich, sodass beim Abspielen Abrieb entsteht. Der verschmutzt die Tonköpfe, der Sound wird sehr dumpf, teilweise bleibt das Band gar kleben. Die anschliessende Reinigung der Tonköpfe ist mühsam.

Um das Nostalgie-Feeling dennoch zu erhalten, komme ich auf folgende Idee: Ich wickle die alten Spulen mit neuem Band auf und bespiele dieses neu mit der ursprünglichen Musik. Zumindest so ungefähr. Radiosendungen über das Folkfestival Lenzburg finden sich natürlich nicht auf Spotify, teilweise fehlen auch ganze Alben, etwa vom Schweizer Boogie-Woogie-Duo Che & Ray. Trotzdem finde ich genug Stoff, um wenigstens mal eine alte Spule zu füllen.

Als ich mir das Ergebnis anhöre, merke ich: Es ist nicht dasselbe. Es wird nie mehr genau so sein wie damals. Die Vergangenheit kommt nicht zurück. Je mehr ich versuche, alles genau zu rekonstruieren, desto schmerzlicher wird mir das bewusst.

Also gebe ich die Idee auf, die Revox A77 als Zeitmaschine zu benutzen. Sie soll ihren Platz in der Gegenwart finden. Ein Erbstück soll nicht dazu dienen, der Vergangenheit nachzutrauern, sondern die Gegenwart zu bereichern. Ich wickle das Band auf hochwertige Metallspulen auf und bespiele es mit meiner Lieblingsmusik.

Ohnehin ist die Revox A77 Mk IV cool genug, um nicht bloss als Relikt zu dienen. Sie sieht ansprechend aus, und unter optimalen Bedingungen klingt sie auch gut.

Die Soundqualität hängt von verschiedenen Faktoren ab. Das Wichtigste ist, dass die Tonköpfe absolut sauber sind. Zudem sollten die Metallteile, die mit dem Band in Berührung kommen, von Zeit zu Zeit entmagnetisiert werden. Dafür habe ich mir ein spezielles Tool bestellt.

Du weisst, dass du ein Nerd bist, wenn du einen Tonkopf-Entmagnetisierer dein Eigen nennst.

Bei Bandmaschinen kannst du in mehreren Punkten zwischen höherer Qualität und mehr Speicherplatz wählen. Da ist zum einen die Bandgeschwindigkeit. Die Revox A77 kann mit 9,5 oder 19 cm/s betrieben werden. Die schnellere Geschwindigkeit bringt eine höhere Tonqualität, dafür hat nur halb so viel Musik Platz. Dasselbe gilt für Aufnahmen in Mono statt Stereo. Die beiden Kanäle links und rechts lassen sich separat aufzeichnen und abspielen. Ich kann also doppelt so viele Mono-Musik wie Stereo-Musik speichern.

Ich selbst denke nicht im Traum daran, Musik in Mono aufzuzeichnen. Aber mein Vater hat das sehr oft getan. Stereo wurde erst in den Siebzigern zum selbstverständlichen Standard. Highway Chile von Jimi Hendrix aus dem Jahr 1967 kam beispielsweise noch in Mono heraus.

Mein Revox-Modell ist ein Vierspurgerät. Das bedeutet, dass das Band am Ende gedreht und in die umgekehrte Richtung als B-Seite abgespielt werden kann. Es gibt die Revox A77 auch als Zweispur-Gerät. Bei diesem kann nur eine Laufrichtung genutzt werden. Auch hier wieder: Weniger Platz entspricht besserer Qualität. Die Spuren beim Zweispurmodell sind breiter, was zu einer besseren Dynamik führt. Ausserdem ist die Trennung der Kanäle sauberer. Bei Viertelspuren ist oft auch ganz leise die Nachbarspur zu hören – sogenanntes Übersprechen. Professionelle Geräte verwenden ein vier- oder sogar achtmal so breites Band.

Falls dich die Technik genauer interessiert: Hier ist das recht ausführlich und verständlich erklärt.

Wie gesagt, unter optimalen Bedingungen klingt das Ding gut. Aber es passiert sehr leicht, dass die Qualität massiv absinkt. Eine hartnäckige oder unentdeckte Verschmutzung der Tonköpfe, falsches Reinigen, nicht optimal laufendes Band, oder eine andere Ursache. Die Revox A77 ist zwar verglichen mit anderen Bandmaschinen sehr zuverlässig, aber dennoch eine launische Diva.

Beim Googlen nach möglichen Fehlern verliere ich mich schnell in einem Universum von Halbwissen und Pseudo-Expertentum. Da ist die Rede von Tonkopf-Azimuth und Einmessen mit einem Kalibrierungsband. Will ich mich wirklich so tief einarbeiten?

Immer wieder mahnt mich eine innere Stimme zur Vernunft: Hör auf, das ist eine Sisyphusarbeit! Aber ich liebe dieses Gerät. Je mehr ich darin investiere, desto mehr wird es zu einer Herzensangelegenheit. Und zu einer Art Hassliebe.

Mir scheint, dass die Bandmaschine einen warmen, «analogen» Klang erzeugt. Ich bespiele die Bänder zudem mit Aufnahmen aus den Siebzigerjahren, und diese haben eh schon einen warmen Sound. Auch sie wurden zuerst auf Band aufgezeichnet, bevor daraus Schallplatten gepresst wurden. Vielleicht hat es damit etwas zu tun.

Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein, weil ich das Gerät an sich mag. Immerhin: Ein Tontechniker hat mir erzählt, dass Bandmaschinen bis heute in Studios zum Mastern verwendet werden, weil sie durch Übersteuern einen ganz spezifischen Klang erzeugen – der sogenannte Bandsättigungseffekt. Anders als bei einer digitalen Aufnahme entstehen keine hässlichen Störgeräusche, wenn die Aufnahme etwas zu laut eingestellt ist. Stattdessen werden die Pegelspitzen abgedämpft und damit der Sound komprimiert. Der dadurch entstehende Klang wird heute auch digital simuliert.

Als Amateurgitarrist gefällt mir, dass mit der Revox A77 Overdubs möglich sind. Zwar nur in Mono, aber immerhin. Ich kann zum Beispiel eine Basslinie aufnehmen, dann eine Gitarre drüber legen und in einem dritten Aufnahmedurchgang noch Gesang hinzufügen. Heute reisst das niemanden vom Hocker, schliesslich geht das auch mit dem iPhone. Aber: Gewöhnliche Kassettenrekorder konnten das noch Jahrzehnte später nicht.

Die beiden Stereokanäle lassen sich wie erwähnt einzeln aufnehmen und abhören. Ich nehme also zunächst den Kanal I auf. Dann nehme ich auf Kanal II die zweite Stimme auf und überspiele gleichzeitig Kanal I auf Kanal II. Das Resultat kann ich anschliessend zusammen mit einer weiteren Stimme auf Kanal I zurückspielen. Dieses Pingpong-Spiel lässt sich beliebig oft wiederholen, allerdings erhöht sich das Rauschen mit jedem Schritt. Bei meiner Diva rauscht der eine Kanal sowieso übermässig.

Während dieser Aufnahme ging der Bandzähler kaputt, sodass ich keine Ahnung hatte, bis wohin ich das Band zurückspulen musste. Die Diva hat wieder zugeschlagen.

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